Trade SecretsIn zahlreichen der größten Skandale in letzter Zeit – Luxleaks, Dieselgate und jetzt die Panama Papers – wurden Geschäftsgeheimnisse vorgeschoben, um zu verbergen, wie Firmen dem öffentlichen Wohl schaden, Steuern hinterziehen oder die öffentliche Sicherheit gefährden. Whistleblower werden vor Gericht gestellt – oder müssen untertauchen. Und dennoch steht das Europäische Parlament kurz davor, mit der „Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen“ diese Gefahr für Whistleblower auszuweiten.

Lex Wikileaks

Als Wikileaks in den Schlagzeilen war, begann die EU Geschäftsgeheimnisse auszuweiten und Whistleblower zu gefährdenTweet this!

Laut einer Recherche durch den österreichischen Investigativjournalisten Erich Moechel fielen die Vorbereitungen für die Richtlinie mit den ersten internationalen Schlagzeilen über Wikileaks zusammen. Für ihn ist es ein Widerspruch, dass das Europaparlament 2015 dem LuxLeaks-Whistleblower Antoine Deltour den Europäischen Bürgerpreis verlieh, nachdem seine Enthüllungen mehrere hundert Millionen Euro an Steuernachzahlungen einbrachten, während die EU zur gleichen Zeit Gesetzgebung vorbereitet, die den Prozess, dem sich Antoine Deltour in Luxemburg gegenübersieht zur europäischen Norm machen würde.

Meine Fraktion Grüne/EFA wird die Richtlinie bei der Abstimmung am Donnerstag, dem 14. April, ablehnen, wie es sowohl über eine halbe Million Petitionsunterzeichner*innen aus ganz Europa als auch zivilgesellschaftliche Organisationen einschließlich Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), Corporate Europe Observatory, Syndicat National des Journalistes und Whistleblower Netzwerk e.V. fordern.

Wir haben vorgeschlagen, die Abstimmung zu verschieben, damit sie mit einer Richtlinie für Whistleblower-Schutz kombiniert werden kann. Einen Entwurf für eine solche wird unsere Fraktion am 4. Mai vorstellen. Mit der Ablehnung dieses Vorschlags haben sich die EVP- und die S&D-Fraktion festgelegt: Während die Panama Papers weiterhin die Schlagzeilen dominieren, wollen sie die Möglichkeiten von Firmen ausweiten, wichtige Informationen unter Verschluss zu halten – und Whistleblower abschrecken.

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Was ändert sich durch die Richtlinie?

1. Lizenz zur Vertuschung

In vielen Mitgliedstaaten wird durch die Richtlinie die Definition drastisch ausgeweitet, welche Informationen als Geschäftsgeheimnis geschützt werden können. Die neue Definition (Artikel 2) schließt z.B. weder Informationen über illegales oder schädliches Handeln aus, noch Informationen über laufende Verfahren wegen solchen Verhaltens.

Die Richtlinie schützt einseitig die Interessen der Geschäftsgeheimnisträger, aber schafft keine Mindeststandards für den Schutz des öffentlichen Interesses: Die Mitgliedstaaten dürfen über die Richtlinie hinaus noch weitergehenden Geschäftsgeheimnisschutz im nationalen Strafrecht verankern. Bereits existierende Regelungen werden durch die Umsetzung der Richtlinie höchstwahrscheinlich sogar ausgeweitet, weil die weitergehende Definition von Geschäftsgeheimnissen vermutlich für alle Rechtsbereiche Anwendung finden wird. Die Ausnahmen, die die Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern und der Presse definiert, gelten hingegen nicht automatisch für das nationale Strafrecht.

Beispiel: In Deutschland müssen Unternehmen bislang nachweisen, dass ein legitimes Schutzinteresse vorliegt, wenn sie eine Information als Geschäftsgeheimnis schützen lassen wollen. Bei Informationen über illegale Aktivitäten liegt das grundsätzlich nicht vor. Außerdem können nur betriebsbezogene Informationen geschützt werden – das schließt z.B. den Schutz von Informationen über laufende Untersuchungen, etwa wegen Wettbewerbsverletzungen, vom Geschäftsgeheimnisschutz aus. Diese grundlegenden Einschränkungen der Definition von Geschäftsgeheimnissen würden entfallen.

2. Einschüchterung von Whistleblowern

Die Art und Weise, wie Sie Ihre „Fakten“ präsentieren, lässt darauf schließen, dass Sie unbefugten Zugang zu vertraulichen Dokumenten und Informationen unseres Unternehmens gehabt haben […] Wir dürfen davon ausgehen, dass Sie wissen, dass die Verwendung von rechtswidrig erlangten Informationen/Dokumenten eine Straftat darstellt, und werden nicht zögern, deswegen straf- und zivilrechtlich vorzugehen.
Reaktion von Mossack Fonseca auf die Panama Papers, 3. April 2016

Die Richtlinie wird es Firmen, die auf frischer Tat ertappt wurden, leichter machen, Whistleblower und investigative Journalist*innen zu verklagen. Die Beweislast dafür, dass sie im öffentlichen Interesse gehandelt haben, liegt dann bei den Whistleblowern – obwohl für das nachzuweisende „allgemeine öffentliche Interesse“ gar keine gemeinsame Definition existiert.

Die Richtlinie hindert Mitgliedsstaaten nicht daran, Whistleblower zu kriminalisieren. Im Januar letzten Jahres wollte die französische Regierung im Vorgriff auf diese Richtlinie ein Gesetz erlassen, das drei Jahre Gefängnis und eine Strafe von €375.000 für das Aufdecken von Geschäftsgeheimnissen vorsah. Obwohl die Initiative verhindert werden konnte, lässt sich daran die zunehmende Härte erahnen, die auch in anderen Mitgliedsstaaten zu erwarten ist.

Angesichts des gewaltigen Machtgefälles zwischen Whistleblowern (üblicherweise Angestellte) und Firmen, die sich langwierige Rechtsstreitigkeiten leisten können, wird dies zwangsläufig zu einem Einschüchtungseffekt führen. Dabei hat sich in den letzten Monaten wiederholt gezeigt, dass wir zunehmend auf Insider angewiesen sind, um Fehlverhalten aufzudecken, das sich nationalen Strafverfolgungsbehörden und demokratischer Kontrolle entzieht.

Beispiel: Edward Snowdens Enthüllungen der anlasslosen globalen Überwachung würden die Whistleblower-Kriterien der Verordnung voraussichtlich nicht erfüllen.

3. Risiken für öffentliche Sicherheit und Aufsicht

Weil es in der Richtlinie nicht darauf ankommt, zu welchem Zweck geheime Informationen erlangt, genutzt oder weitergegeben werden, schützt sie Unternehmen bei Weitem nicht nur vor unlauterem Wettbewerb oder Wirtschaftsspionage, wie das in Deutschland bisher der Fall ist. Sie schirmt die Unternehmen auch von zahlreichen legitimen Informationsanfragen ab. Einige Beispiele:

  1. Dieselgate: Der TÜV konnte Motorensoftware nicht auf Abschalteinrichtungen zur Manipulation von Abgastests untersuchen, weil Autohersteller sich mit Rückendeckung der Bundesregierung auf den Geschäftsgeheimnisschutz beriefen.
  2. Tödliches Experiment: Während eines Arzneimitteltests in Frankreich Anfang des Jahres kam ein Mann zu Tode. Als Wissenschaftler*innen sich Zugang zu entscheidenden Testdaten verschaffen wollten, stellte sich das Pharmaunternehmen quer – mit Verweis auf ihre Geschäftsgeheimnisse.
  3. Geheime Studien: Die kontroverse Einstufung des Wirkstoffs Glyphosat in Monsantos Unkrautvernichter Roundup durch die EU-Kommission als „wahrscheinlich nicht krebserregend“ widerspricht nicht nur den Ergebnissen der Weltgesundheitsorganisation WHO – sie basiert auch auf einer Studie der Industrie, in die unabhängige Wissenschaftler*innen keinen Einblick erhalten, weil die Unternehmen sie als Geschäftsgeheimnis ansehen.

4. Gefahr für die Rechte und Mobilität von Arbeitnehmenden

In Verhandlungen mit dem Rat wurde eine Änderung verworfen, die sichergestellt hätte, dass im Beruf erworbenes Wissen nicht als Geschäftsgeheimnis eingestuft werden kann. Damit setzen sich Arbeitende nach dem Jobwechsel für sechs Jahre dem Risiko aus, von ihrem ehemaligen Arbeitgebenden verklagt zu werden. Auch wenn die Richtlinie selbst in diesem Fall keine Sanktionen vorsieht, erlaubt sie Mitgliedsstaaten, diese einzuführen.

Dass die Richtlinie Firmen praktisch erlaubt, beliebige Informationen als Geschäftsgeheimnisse einzustufen, gefährdet nach Einschätzung einer Expertin auch die Arbeit von Betriebsrät*innen.

Fakt: Die meisten Gerichtsverfahren um Geschäftsgeheimnisse werden von Firmen gegen ihre aktuellen oder ehemaligen Angestellten geführt. (Quelle: Corporate Europe Observatory)

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Reaktionen

Wir fordern die EU-Parlamentarier auf […] gegen die Richtlinie zu stimmen. Sie ist geeignet die journalistischen Recherchemöglichkeiten einzuschränken, Journalisten einzuschüchtern und die redaktionelle Arbeit durch hohe Kostenrisiken zu behindern.
Redakteursausschüsse von ARD, ZDF, Deutschlandradio und Deutscher Welle (AGRA)

Wollt ihr wirklich eine Gesellschaft, in der es der Öffentlichkeit unmöglich ist, an Information zu gelangen, die wesentlich ist für das Wohl der Allgemeinheit?
Antoine Deltour, LuxLeaks-Whistleblower und Träger des Europäischen Bürgerpreises 2015

Aus einem Gesetz, das einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen regulieren hätte sollen, wurde effektiv ein Geheimhaltungs-Blankoscheck für Unternehmen gemacht, der nun alle in unserer Gesellschaft gefährdet, die manchmal ohne Zustimmung auf unternehmensinterne Informationen zugreifen müssen: Konsument*innen, Arbeitnehmende, Journalist*innen, Wissenschafter*innen,…
—Corporate Europe Observatory, European Network of Scientists for Social and Environmental Responsibility (ENSSER), Syndicat des Avocats de France (SAF), Syndicat National des Journalistes (SNJ), Tax Justice Network, Transparency International France, Whistleblower-Netzwerk e.V. und über 40 weitere NGOs

Dieser Vorschlag […] birgt ernste Gefahren für die Interessen von Konsument*innen und Arbeitnehmer*innen, für die Umwelt und für die Menschenrechte. Der Schutz von Whistleblowern – der Großteil davon sind Arbeiter*innen und Angestellte – wird unzureichend sein […]. Es ist auch enttäuschend, dass die Fähigkeiten und die Expertise, die in einem Arbeitsverhältnis erlangt wurde, möglicherweise zu einem Geschäftsgeheimnis erklärt werden kann.
Annelie Buntenbach, Deutscher Gewerkschaftsbund, Mitglied des Vorstandes

[…] jede Menge Rechtsunsicherheit umgibt immer noch die Umstände, unter denen investigative Journalist*innen und deren Quellen verklagt werden können. Angesichts der Gefahr, Schadensersatz leisten zu müssen, wird diese Unsicherheit dazu führen, dass Journalist*innen und ihre Quellen wichtige Information für sich behalten werden.
Anne Friel, Anwältin, European Aarhus Centre

Das Inkrafttreten der Richtlinie würde de facto zu einer Einschränkung von Presse- und Informationsfreiheit auf europäischer Ebene führen. Journalistinnen und Journalisten hätten ebenso wie Whistleblower massive rechtliche Konsequenzen aus Enthüllungen zu befürchten und wären dadurch in ihrer Arbeit deutlich eingeschränkt
Cornelia Haß, Bundesgeschäftsführerin, Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju)

Petitionen

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Zeitlicher Ablauf

Vorgeschichte

  • Vorgeschlagen durch die Europäische Kommission im November 2013
  • Mit geringen Verbesserungen vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments verabschiedet am 22. Juni 2015 (Berichterstatterin: Constance Le Grip, EPP)
  • Verhandlungen mit dem Rat (Trilog) ergaben den jetzigen Kompromissvorschlag, der vom Rechtausschuss am 28. Januar 2016 durchgewunken wurde. Einige Bestimmungen, die hier erwähnte Kritikpunkte ausgeräumt hätten, wurden dabei entfernt.

Abstimmung der Konferenz der Präsidenten über eine Vertagung

Do, 7. April — Philippe Lamberts, der Ko-Fraktionsvorsitzende der Grüne/EFA, beantragt eine Vertagung der Abstimmung, bis die Kommission einen Vorschlag zu einem parallelen Text zum Schutz von Whistleblowern gemacht hat und dieser vom Parlament und vom Rat angenommen wurde. Die beiden Texte würden dann in einem Paket verabschiedet werden.
Der Vorschlag wurde von EPP, S&D, ECR, ALDE und ENF abgelehnt; von der EFDD-Fraktion unterstützt; mit einer Enthaltung der GUE/NGL.

Plenardebatte

Mi, 13. April, ab 15:00 — Livestream

Plenarabstimmung

Do, 14. April, ab 12:00 — Der Text kann nicht mehr geändert werden, die Grünen/EFA haben einen Antrag gestellt, den gesamten Text abzulehnen.
Die Abstimmung ist bindend, es folgt nur mehr die formale Zustimmung des Rates zum bereits ausgehandelten Kompromiss. — Livestream

Präsentation einer Whisteblower-Richtlinie

Mi, 4. Mai, 9:30 bis 13:00 — Die Fraktion Grüne/EFA hat Rechtsexpert*innen damit beauftragt, einen Entwurf für eine Richtlinie für die Einführung von Minimalstandards für den Schutz von Whistleblowern in ganz Europa zu verfassen. Sie wird bei einer öffentlichen Debatte im Europäischen Parlament vorgestellt.

Aus #PanamaPapers nichts gelernt? Neue EU-Richtlinie zu Geschäftsgeheimnissen bedroht Whistleblower Tweet this!

Soweit dies durch das Gesetz möglich ist, hat der Schöpfer auf das Copyright und ähnliche oder Leistungsschutzrechte zu seinem Werk verzichtet.

Ein Kommentar

  1. 1
    dagmar geruschke

    Als 60-jährige freue ich mich, dass es Menschen gibt wie sie. In den 70-igern gab es mehr Gleichgesinnte als heute. Machen sie bitte weiter und kämpfen sie um die Werte die eine Gesellschaft ausmacht. Ich bin entsetzt, dass ein verletzendes angeblich satirisches Gedicht ,mehr Aufmerksamkeit in den Medien hat, als dieses doch wohl entscheidende Gesetz.